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Kunst und die Entdeckung der utopischen Potenziale von Brachen

Über das öffentliche Werfen, Bauen und Ausstellen auf Restflächen

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In jeder Stadt gibt es brachliegende Industrieareale, verödete Bezirke und ungenutzte Wohn- und Geschäftsflächen. Ehemalige gebaute Ordnungen, nun im Verfall begriffen, die meist nur unter dem Aspekt des Defizitären betrachtet werden. Wert wird ihnen lediglich in Hinblick auf eine zukünftige Vernutzung beigemessen: als Eldorado für Investments und neue städtebauliche Visionen. Doch gerade weil sie in ihrem Istzustand nicht in eine stadtplanerische Ordnung gepresst sind, bieten sie sich in ihrer beispiellose Offenheit als Erlebnis- und Gestaltungsräume an. Die Kunst kann dabei als Dreh- und Angelpunkt dienen.

Lokale Aneignungen

Ich wandele gerne auf den Spuren von Pionierpflanzen. Mir imponiert ihre Fähigkeit, sich unter widrigen Lebensumständen zu behaupten. Belastete Böden, Steinwüsten. Und natürlich eignet sich auch das Ruhrgebiet mit seinen aufgelassenen Industriearealen hervorragend für derartige Betrachtungen. Zudem lebe ich hier. Und das sogar gerne – obwohl die Umstände oftmals widrig sind. Denn wie Pionierpflanzen einen lehren: Mit der passenden Strategie lassen sich sogar verhärtete Verhältnisse aufbrechen. So kam ich zum Kunstwerke-Werfen. 49 Künstler aus dem In und Ausland hatten eigens für diesen Zweck Kunstwerke geschaffen. Die wurden am 4. September 2011 über einen Zaun auf ein im Besitz der Stadt Bochum befindliches 4,5 Hektar großes Gelände geschmissen. Mit seiner so zustande gekommenen 1. Ausstellung Kunstwerke-Werfen / Informelle Inbesitznahme des Situativen Brachland Museums nahm das Situative Brachland Museum den Betrieb auf (http://www.brachland-museum.de). Über 200 Leute waren gekommen. Das Medienecho war gewaltig – nicht schlecht für ein No-Budget-Projekt, das zudem unter Geheimhaltung vorbereitet werden musste. Denn die Stadtverwaltung hatte zuvor abgelehnt, das unbebaute, abgesperrte Gelände für Kunstveranstaltungen zugänglich zu machen. Nun ja, diesem Geheiß konnte immerhin entsprochen werden. Die Kunstwerke wurden ausschließlich von außen per Wurf auf das Gelände expeditiert. Und auch die wöchentlichen Museumsführungen, bei denen den interessierten Besuchern die Kunstwerke gezeigt und erläutert wurden, fanden um den Zaun herum statt. Trotzdem zeigte sich nicht jeder gleich erfreut. „Herr Schamp hatte keine Genehmigung für diese Aktion. Er hat sich bewusst dagegen entschieden, mit uns in dieser Sache in Kontakt zu treten“, erklärte der Stadtsprecher anderntags der Presse. „Wie mit der ungenehmigten Museumseröffnung zu verfahren ist, steht noch nicht fest.“ Und: „Da das Gelände umzäunt ist, besteht durch die über den Zaun geworfenen Kunstwerke keinerlei Gefahr für die Bürger.“ Offenbar gab es seitens der Stadt Anlaufschwierigkeiten, die Ausstellung Kunstwerke-Werfen als das zu erkennen, was sie war: ein Geschenk! Nicht nur eine qualitativ hochwertige Ausstellung zeitgenössischer Kunst mit überregionaler Strahlkraft, sondern sogar die Geburt eines ganz neuen Museums, das den Steuerzahler obendrein keinen Cent gekostet hat. Dazu gibt es eine Vorgeschichte…

Wie alles anfing

Vor ein paar Jahren hatte ich das Areal, auf das schließlich besagte Kunstwerke flogen, für mich entdeckt. Durch seine citynahe Lage war das Gelände, auf dem sich vor dem Krieg der Bochumer Hauptbahnhof befunden hatte, für regelmäßige Exkursionen wie geschaffen. Es grenzt direkt ans sogenannte „Bermudadreieck“, wo das gesellige Leben tost und schäumt. Von dort musste man nur die Straßenseite wechseln, um plötzlich in eine komplett andere Welt einzutauchen. So war es denn auch nicht nur der Zauber dieses Orts an sich, der mich für ihn einnahm, sondern ebenso die Erfahrung des Bruchs, der mit seinem Aufsuchen einherging. Das Ruhrgebiet lebt aus seinen Brüchen. Stadtplaner neigen ja oft dazu, zu nivellieren und zu vereinheitlichen. Ich halte dagegen gerade Brüche für produktiv. Dieses Gelände wurde 2010 als Bochumer Kreativquartier deklariert und mit einem hohen und teuren Zaun fest umschlossen. Damit bildete es gewissermaßen das Potemkin‘sche Oberdorf in der mit Potemkin‘schen Dörfern reichlich gesegneten Kulturhauptstadt. In einem offenen Brief an den Bochumer Baudezernenten hatte ich mich mit den vier offiziell vorgebrachten Gründen für die Absperrung auseinandergesetzt. Und in der Folge dann 2010 eine erste Kunstaktion gestartet: 1. Bochumer Brachenbrechen / Die Radikalisierung der Brombeersuche. Man verstehe mich nicht falsch: Ich habe keineswegs etwas gegen eine etwaige Bebauung solcher Flächen. Ich bin nicht der Ansicht, dass jede Brache unbedingt erhalten bleiben muss. Doch ich halte es für eine Blödheit, Zwischennutzungen auszuschließen!

Nutzung und Nutzen

Gerade in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet lastet ein ungeheuerer Druck auf den Arealen, auf denen sich noch naturnahe Erfahrungen machen lassen. Regelmäßig eskaliert z. B. die Situation zwischen Umweltschützern, die die Brutstätten der Wasservögel an der Ruhr verteidigen, und Erholungssuchenden oder anderen Freizeitaktivisten, die die Ufervegetation niedertrampeln. Durch die Abriegelung von Brachflächen, die aus ökologischer Sicht bedenkenlos zu betreten wären, wird dieser Druck noch künstlich weiter erhöht. Das Verwaltungszauberwort für solche Maßnahmen heißt Verkehrssicherungspflicht. Ich halte diese nicht generell für unangebracht. Wo sich unversehens Schächte auftun, wo schwere Teile herabfallen oder frei zugängliche Kanäle in Sekundenschnelle mit Wasser voll laufen können, sind Warnhinweise und Sicherungsmaßnahmen sinnvoll. Nur: Keines solcher Risiken ist auf dem erwähnten Gelände auch nur ansatzweise vorhanden. In einem Kaninchenloch umknicken oder sich eine Scherbe in den Fuß treten – das kann einem schließlich auch in einem Park passieren, wenn man abseits der befestigten Wege herumläuft. Es stellt eine Entmündigung dar, wenn dem Bürger in solchen Fällen nicht mehr das Recht auf eine eigene Risikoabwägung zugestanden wird. Dass verängstigte Verwaltungen in ihrer Interpretation der Verkehrssicherungspflicht auch manchmal übers Ziel hinausschießen, erscheint nicht so verwunderlich. Aber umso entschiedener muss man sich dagegen verwahren. Es darf einfach nicht sein, dass Ordnungsfanatiker immer mehr von unserer Umwelt abschnüren, bis nur noch die trost- und bedeutungslosen Einöden übrig bleiben, zu denen sie unsere Städte im Kern bereits zugerichtet haben. Zumal der Angelegenheit ja auch – wie bei jeder Scheinrationalisierung – etwas Irrationales anhaftet: Niemand käme z. B. auf die Idee, den Autoverkehr zu verbieten, obwohl damit ja unleugbar Gefährdungen verbunden sind.

Utopische Potenziale von Arealen andernorts

In den letzten beiden Jahren hatte ich das Glück, auf Einladung des Goethe-Instituts neun mittelosteuropäische Hauptstädte besuchen zu können und dort in Kontakt mit Stadtplanern, Architekten und Künstlern zu treten. Zwei Projekte sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Sie zeigen, wie die utopischen Potenziale solcher Areale freigesetzt werden können, wenn nicht Angst und das Misstrauen in die eigene Bevölkerung den Umgang diktiert. Das erste Projekt begegnete mir in Tallinn. Die estnische Hauptstadt war 2011 europäische Kulturhauptstadt. Im Zuge dessen kuratierten Margit Argus und Margit Aule die Ausstellung LIFT11 im öffentlichen Raum. Eine der elf Arbeiten war das Projekt Kalarand von Toomas Paaver, Teele Pehk und Triin Talk (http://www.lift11.ee/installation/kalarand_en). Kalarand ist auch der Name eines nah am Stadtzentrum gelegenen Küstenstreifens. Nachdem dort in den 1990er Jahren die aus der Sowjetzeit stammenden Militärgebäude, Lager und Fabriken abgerissen worden waren, hatte sich das Gelände zwischenzeitlich zu einem inoffiziellen Badestrand entwickelt. Dem standen Pläne von Stadtentwicklern und Investoren sowie die Behauptung entgegen, das Wasser dort sei zum Baden ungeeignet. Letzteres wurde durch eine Überprüfung der Wasserqualität im Rahmen des Projekts Kalarand widerlegt. Zudem wurde das Gelände ohne großen Finanzaufwand mit einer selbstgebauten Umkleidekabine, Liegemöbeln aus Brettern und einer Müllsammelstelle ausgestattet und so der Nutzen als inoffizieller Badestrand optimiert. Mit Beachpartys wurden weitere Bevölkerungskreise mit den Möglichkeiten des Geländes vertraut gemacht. Denn darum geht es ja gerade auch: derartige Areale im öffentlichen Bewusstsein wach zu halten, damit eine möglichst breite Diskussion über ihre Verwendung geführt wird – obwohl das für Stadtplaner sicher oft unbequem ist. Auf das zweite Projekt stieß ich in einem der Randbezirke von Vilnius. Der Betreiber Andrius Ciplijauskas hatte es vorher schon auf der Konferenz Art in Public Space: Crossroads of Visual Arts, Architecture, Urban Development and Civil Society in Riga vorgestellt, an der ich ebenfalls teilgenommen hatte. Doch so richtig begreifen konnte ich die Qualität von BEEpart erst, als ich selber dort stand und die Atmosphäre mit allen Sinnen aufnahm beepart. Pilaité heißt der Stadtteil, eine Trabantenstadt der litauischen Hauptstadt. Keine Cafés, keine Kultureinrichtungen. Nur Wohnen und Schlafen. Und ein paar Einkaufsmöglichkeiten. Und irgendwo am Rand das im öffentlichen Besitz befindliche Gelände, auf dem der Ausstellungsdesigner Ciplijauskas dank seiner Hartnäckigkeit ein temporäres Bauwerk errichten durfte: zwei Container versetzt übereinander gestapelt. Der untere (gut verschließbar und fensterlos) dient als Stauraum. Darüber befindet sich in einem zweiten, weitaus größeren Container ein kleines Arbeitsräumchen, das von Ciplijauskas als Büro genutzt wird, sowie ein großer, multifunktional nutzbarer Ausstellungsraum, der der Allgemeinheit offensteht. Draußen, unter diesem Container, welcher sie wie ein Dach überragt, befindet sich zudem eine gezimmerte Tanzfläche. Das intelligent konstruierte Bauwerk ist das Herzstück von BEEpart. Doch die Besonderheit liegt in dem Areal, das als Ganzes umcodiert wird. Auf den ersten Blick scheint das Gelände aus allen städtebaulichen Bezügen herausgefallen zu sein. Ein typischer Restraum. Ein verwilderter, ein paar Hektar großer Grünstreifen, abschüssig. Zu einer Seite fegt der Verkehr einer Schnellstraße über eine Brücke. Zur anderen Seite Hochhäuser, die nur als Rohbau fertig wurden und nun dem Verfall entgegendämmern. Ein Stück Niemandsland. Wie leicht ließe sich sagen: zersiedelt, desolat. Doch unter dem Einwirken von BEEpart findet nicht nur eine soziale, sondern auch eine ästhetische Transformation statt.

Von der Vorteilhaftigkeit scheinbarer Nachteile

Es ist wirklich spürbar: Hier umgibt einen ein urbaner Park von ganz besonderer Art, d. h. einer wundersamen rauen Schönheit! Jedes scheinbare Manko des Geländes hat sich bereits in eine Attraktion verwandelt. Die verfallenden Rohbauten: eine prächtige Kulisse für Performanceaufführungen und Lichtspektakel, durch die sich die Landschaft in eine gigantische Freilichtbühne verwandelt. Die breite Brücke mit ihren Betonpfeilern: ein praktisches Dach. Und von einer Feuerstelle oben am Hang lässt sich – als Neufassung romantischer Erhabenheitssichten – trefflich herab auf die Schnellstraße blicken, wie auf einen rauschenden Strom. Die meiste Arbeit, erzählte mir Ciplijauskas, habe er damit gehabt, das Gelände stets von neuem zu säubern. Ob das immer noch so sei? „Es ist deutlich weniger geworden“, lautete die Antwort. Ganz langsam ändert sich das Verhalten. Einerseits wird weniger Müll liegengelassen, andererseits gibt es mittlerweile ein paar mehr Leute, die sich der Pflege des Geländes verschrieben haben, weil sie sich seiner außerordentlichen Qualitäten bewusst wurden. Von wöchentlichen Tanzveranstaltungen der unmittelbaren Nachbarschaft bis zu Großveranstaltungen, zu denen Besucher von weither anreisen – BEEpart entwickelt eine erstaunliche Anziehungskraft. Dabei war der Ausgangspunkt denkbar simpel. Die Wohnungen sind hier bezahlbar. Er habe mit seiner Frau eine gekauft, erzählte mir Ciplijauskas. Nach einer Weile habe er die Tristesse der Trabantenstadt nicht mehr ausgehalten, so dass er nur zwei Möglichkeiten sah: wegziehen oder was gegen die Tristesse unternehmen. Er hat letzteres gewählt.

Areale offenhalten

Und dies ist ja gerade der Geist, der auf allen Brachgeländen dieser Welt geschult wird. Und auch eben deshalb ist es so wichtig, derartige Areale für die freie Benutzung offen zu halten. Denn neben allen möglichen handwerklichen Fähigkeiten eignen sich schon Kinder, die auf einer Brache unkontrolliert von Erwachsenen eine Hütte bauen, eine ganz wesentliche Hauptkompetenz an: dass die Welt nämlich nicht etwas unverrückbar Feststehendes ist, eine von der eigenen Person unabhängige Objektivität, der man immerzu nur ausgeliefert ist, sondern ganz im Gegenteil: dass sie gestaltbar ist, und also auch von jedem Einzelnen ein Stück weit zu verändern. Und was das Bochumer Brachgelände anbelangt: Nach dem Kunstwerke-Werfen kam es zumindest zeitweise zu einer behutsamen Öffnung seitens der Stadt. Mit Studenten der Evangelischen Fachhochschule RWL wurden 2012 und 2013 dort Seminare durchgeführt, aus deren Ergebnissen eine Ausstellung mit dem Titel Cargo Cult Reloaded resultierte, die kürzlich im Kunstmuseum Bochum präsentiert wurde. Und das Unternehmen Ingold Airlines errichtete in Zusammenarbeit mit dem „Situativen Brachland Museum“ auf der Brache einen Flughafen für die blauflügelige Ödlandschrecke.

Erkenntnis und Soziale Praxis versus Repräsentation

Zumeist wird Kunst-im-öffentlichen-Raum ja nicht als autonome Position sondern als bloße Funktion des Stadtmarketings begriffen. Es liegt auch in der Verantwortung der Künstler, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Wer nicht die Repräsentation als seine Aufgabe, sondern die künstlerische Arbeit als Bestandteil einer umfassenden sozialen Praxis ansieht, die ganz im Sinne einer Erkenntnisleistung auch das Hinterfragen von Realitäten und Aufbrechen von Deutungsmustern zum Ziel hat, muss sich jenseits der üblichen Mechanismen des Kunst- und Ausstellungsbetriebs Räume und Handlungsoptionen erhalten. Die Randlagen, Zwischen- und Verwerfungszonen unserer Städte bieten sich dabei als Spielorte und Experimentierstätten an. Ihre funktionelle Offenheit, ihre Schwebezustände zwischen einstigem Gebrauch und noch ungeklärter Zukunft lassen sie als Orte der Utopie besonders geeignet erscheinen. Es ist wie beim Kunstwerke-Werfen: ihre größte Kraft und Bedeutung entfalteten diese Werke ja zwischen Abwurf und Aufprall, d. h. im Moment der Unentschiedenheit beim Durchgang durch die Luft.

Autor: Matthias Schamp, geb. 1964. Arbeit als Bildender Künstler und Autor. Seit 1997 Betreiber einer Pommesbude und alltagsarchäologischen Spielstätte namens „Der Mythos-Grill“ mit temporären Filialen in Museen und anderen Kultureinrichtungen im In- und Ausland. Lehraufträge an der Bauhaus-Universität Weimar, TU Berlin und der Evangelischen Fachhochschule RWL.

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Kunstwerke-Weitwurf ins erste Brachland-Museum, Bochum. Foto: Claudia Heinrich / © Claudia Heinrich

Brachen und Brombeeren

Die Aktion des „unbotmäßigen Übersteigens eines unsinnigen Zauns“ hatte zwei Mottos: „Das erste Bochumer Brachenbrechen“ sowie „Die Radikalisierung der Brombeersuche“ und fand an einem Sonntag im September 2010 statt. 32 Zuschauer waren anwesend, als der Zaun, der die Brache abschloss, ohne Erlaubnis seitens der Stadt mittels Leitern überwunden wurde. Ein Strauß Goldruten wurde auf der Brache gepflückt und unter den Zuschauern verteilt. Anschließend wurde für die Erzeugung eines Glases Brombeer-Gelees gesammelt.
> Brachenbrechen.


Wilde Brombeeren. Foto: Thaddäus Zoltkowski (CC)

Die Idee der Kulturhauptstadt

Seit 1985 wird jährlich der Titel „Kulturhauptstadt Europas“ vergeben, seit 2004 wird er an mindestens zwei Städte der Europäischen Union vergeben und auch Städte aus Nicht-Mitgliedstaaten können partizipieren. Diese Kulturinitiative will zum einen die Vielfalt des kulturellen Erbes in Europa zeigen und zum zweiten das Verständnis der Bürger Europas füreinander fördern. Die EU stellt dafür Fördermittel zur Verfügung, die es den benannten Städten jeweils für ein Jahr ermöglichen, zahlreiche kulturelle Veranstaltungen durchzuführen und ihre Besucherzahlen zu erhöhen.

Kunst im öffentlichen Raum

In den 1960er Jahren hat der Anspruch auf Demokratisierung von Kunst dazu geführt, dass kommunale Kulturbüros eingerichtet wurden, die Kunst im öffentlichen Raum und Kunstwettbewerbe durchführen und den Kunstbestand vor Ort präsentieren. Vom „Kunst am Bau“ über die Straßenkunst bis hin zu temporären, öffentlichen Aktionen ist moderne Kunst im öffentlichen Raum heute selbstverständlich vorhanden und entwickelt sich laufend weiter. So ist es heute durchaus möglich, dass die Besucher und Betrachter das Werk vollenden und anders als in einem Museum nicht andächtig davor erstarren. Andererseits gibt es auch eine Art Kunsttourismus von Künstlern: Sie kommen für eine Auftragsarbeit in eine Region, schauen sich um und sind dann wieder weg. Zurück bleibt ihr Kunstwerk. Und so temporär wie solche Aufenthalte von Künstlern, so temporär sind heute auch die meisten Werke im öffentlichen Raum. Die Zeiten sind vorbei, in denen sowohl die Städte wie die Künstler einen Daueranspruch an das Werk und seinen Standort anmelden. Auch das Goethe-Institut als Repräsentantin deutscher Kunst und Kultur im Ausland ist an der Initiierung von Kunst im öffentlichen Raum beteiligt. Beispielsweise thematisierte das Goethe-Institut Riga die Verbindungen von Architektur, Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und Visuellen Künsten im Projekt „International Baltic Project 2011-2013“, in dessen Rahmen diverse Projekte, Vorträge, Aktivitäten und Treffen stattfanden und auch das im Text erwähnte BEEpart-Projekt vorgestellt wurde.
> Creativeworx.


Kunstraum und Kunstobjekt für einen Tag: die A40 im Kulturhauptstadtprojekt 2010. Foto: Jan Fluse (CC)

EMSCHERKUNST.2013 Foto: Karl-Heinz Blomann / © Karl-Heinz Blomann

EMSCHERKUNST

Ihren Auftakt hatte die EMSCHERKUNST während der Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 und wird als Triennale im Jahr 2013 fortgesetzt. Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Emschergenossenschaft, dem Regionalverband Ruhr und den Urbanen Künsten Ruhr. Thematisch begleitet die EMSCHERKUNST bis ins Jahr 2020 den Strukturwandel der Region sowie den Emscher-Umbau, das größte Renaturierungsprojekt Europas. Der Zusammenhang von Architektur, Kunst und räumlicher Innovation steht dabei im Fokus. In Auseinandersetzung mit der Thematik der Re-Naturalisierung des Emscher-Flusses werden entlang der Emscher diverse architektonische und künstlerische Orte und Objekte realisiert. Ausstellungsraum der Emscherkunst sind ungewöhnliche Orte entlang der Emscher, wie beispielsweise ehemaliges industrielles Brachland, einstige Kläranlagen oder unentdeckte Naturräume. Diese vorher oft unzugänglichen Orte werden erst durch Kunst für die Bevölkerung geöffnet.
> Emscherkunst.

Urbane Künste Ruhr

In der Nachfolge der Kulturhauptstadt Europa RUHR 2010-Aktivitäten initiiert die Kultureinrichtung „Urbane Künste Ruhr“ bis 2014 diverse Projekte im urbanen Raum, z.B. temporäre Architektur, städtische Kunst-Interventionen und künstlerische Forschungsprojekte, die das Thema Neue Wege im Umgang mit städtischen Ballungszentren zu bearbeiten suchen. So untersucht beispielsweise ein Forschungsprojekt den Stadtraum entlang der Bundes-Autobahn A 40 und richtet zwei direkt an der Autobahn gelegene künstlerische Forschungsstationen ein. Als interventionistisches Projekt werden u.a. Mobile Labore initiiert, die den urbanen Raum des Ruhrgebiets erkunden und dabei sowohl Mittel der Darstellenden und Bildenden Kunst einsetzen als auch sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden.

EMSCHERKUNST.2013: Der »Zauberlehrling« des Berliner Künstlerkollektivs Inges Idee. Foto: Karl-Heinz Blomann / © Karl-Heinz Blomann

Wissenswertes


Matthias Schamp auf botanischer Wanderung durch urbane Brachen. Foto: Claudia Heinrich / © Claudia Heinrich

Botanik in der Stadt

Im Rahmen des Kunstprojekts „Occupation“ in Berlin wurde 2005/2006 der öffentliche Raum in der Stadt und seine Veränderungen durch den sozialen und ökonomischen Wandel künstlerisch thematisiert. Der „Botanische Lehrpfad Karl-Marx-Straße“ nahm nicht nur Straßenbäume und Grünstreifen in den Blick, sondern auch Unkräuter in Ritzen und Spalten, Flechten in Mauersteinen, Topfpflanzen und exotische Obst- und Gemüsesorten in Auslagen vor Lebensmittelgeschäften. Im Sinne eines „Erweiterten Botanikbegriffes“ wurden auch Plastikblumen, geschmiedete Pflanzenornamente an Fenstergittern, floraler Stoffdruck oder Kunstrasenstücke vor Cafes in den Reflexionszusammenhang mit einbezogen. Sie sind gleichermaßen Bestandteile von Stadt-Botanik, von der Versatzstücke und fotografische Dokumente im Rahmen des „Lehrpfads“ in einem Ladenlokal zur Ausstellung gebracht wurden. Das Ladenlokal diente zugleich auch als Ort, von dem aus Exkursionen gestartet und Eingriffe in den öffentlichen Raum vorbereitet wurden.
> Okkupation.com

Site-specific-art

Wie beim Schlüssel-Schloss-Prinzip geht es bei der situationsbezogenen, ortgebundenen „site-specific-art“ darum, möglichst zwingend in ihrem Kontext einzurasten. Es ist eine Kunst, die ihre Arbeiten bezogen auf die jeweiligen lokalen Besonderheiten entwickelt und sie nimmt sowohl die räumlichen Strukturen als auch deren soziale Implikationen auf. Diese künstlerischen Arbeiten sind nicht bzw. nur sehr eingeschränkt auf einen anderen Ort oder eine andere Situation übertragbar. Damit steht die site-specific-art im krassen Unterschied zu beispielsweise Skulpturen, die zwar an einem konkreten Ort aufgestellt wurden, für die sich aber auch alternative Plätze finden ließen. Skulpturen im öffentlichen Raum verhalten sich zu ihrem Umfeld beliebig. Deshalb werden sie auch als „Drop Sculptures“ bezeichnet.

Brache

Eine Brache ist ein aus wirtschaftlichen oder regenerativen Gründen unbestelltes Grundstück. Auch jedes Grundstück, das sich einmal in menschlicher Nutzung befand, die aber wieder aufgegeben wurde und möglicherweise Spuren hinterlassen hat, kann als brach liegend bezeichnet werden. Die im Ruhrgebiet verbreitete Industriebrache entsteht nach Aufgabe der industriellen Nutzung von Industrieanlagen. Die Gebäude und Anlagen werden dann dem Verfall preisgegeben und/oder auch rückgebaut. Einer Umnutzung oder Revitalisierung steht häufig eine Schadstoffbelastung der Böden und Anlagen entgegen, die oft erst nach aufwendiger und kostenintensiver Sanierung möglich ist (z. B. Zeche Zollverein in Essen). Die Wiedereingliederung von Industriebrachen in den Wirtschaftskreislauf wird als Flächenrecycling bezeichnet.


Zum Weiterlesen auf den Baum klettern. Lese-Kunst im öffentlichen Raum. Foto: Sylvia München (CC)

Zum Weiterlesen…

Blaas-Pratscher, Katharina (Hrsg.): Veröffentlichte Kunst, Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich 8; Wien 2006.


Büttner, Claudia: Art goes public. Von der Gruppenausstellung im Freien zum Projekt im nicht-institutionellen Raum; München 1997.


Grasskamp, Walter: Kunst und Stadt; in: Bußmann, Klaus / König, Kasper / Matzner, Florian (Hrsg.): Skulptur. Projekte in Münster 1997; Ostfildern-Ruit 1997, S.7-41.


Lingner, Michael: Kunst als Projekt der Aufklärung jenseits reiner Vernunft; in: Lingner, Michael(Hrsg.): Das Haus in dem ich wohne. Die Theorie zum Werkentwurf von Franz Erhard Walther; Klagenfurt 1990, S.15-53.


Resch, Christine:»Die nicht mehr schönen Künste«; in: Resch, Christine: Kunst als Skandal., Der steirische Herbst und die öffentliche Erregung; Wien 1994, S.179-197


Rollig, Stella: Das Wahre Leben. Projektorientierte Kunst in den neunziger Jahren; in: Babias, Marius / Könneke, Achim: Die Kunst des Öffentlichen; Dresden 1998, S.12-27


Schamp, Matthias: Hirntreiben.EEG. Wiener: edition selene 2000.


Tschäppeler, Sabine / Gresch, Sabine / Beutler, Martin: Brachland: Urbane Freiflächen neu entdecken; Bern, Stuttgart, Wien 2007


Urbanes Brachland. Foto: F. Rucko (CC)