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Regionale Gegenwarten

Gute Gründe für das „Recht auf ein urbanes Leben“

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Gesellschaftliche Veränderungen – von der ‚Mediatisierung’ über den ‚Strukturwandel’ bis hin zum ‚demografischen Wandel’ – sind globale Trends, die an verschiedenen Orten in unterschiedlicher Form in Erscheinung treten. Entwicklungen, wie die Verknappung von Arbeit, die Dynamisierung von sozialem Aufstieg und sozialem Abstieg oder auch Abwanderung und Verstädterung haben ein regionales Gesicht. Sie bedeuten für verschiedene Bevölkerungsgruppen vor Ort je Unterschiedliches. Angesichts der vielen lokalen Fragmentierungen brauchen wir – auch im Emschertal – ein Recht auf Stadt.

Verschiedene Urbanitäten

Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in städtischen Agglomerationen – eine räumliche Ordnung, die das Ergebnis eines doppelgleisigen Prozesses ist: der gleichzeitigen Verstädterung wie auch der Schrumpfung von Städten. „Mega-Cities“ auf der einen, „Shrinking Cities“ auf der anderen Seite bilden die Spannungspole einer globalen Neuverteilung von Arbeit, Energie und Ressourcen und einer wachsenden Zahl von Menschen, die in den städtischen Regionen ihren Anspruch auf Wasser, Luft, Nahrung, Kapital und politische Teilhabe geltend machen.
Mit dem Begriff der „Mega-City“ ist jedoch keineswegs strukturelle Einheitlichkeit verbunden, genauso wenig, wie die Reduzierung der Einwohnerzahlen in den „Shrinking Cities“ ähnliche Folgen und Auswirkungen hat. So ist beispielsweise die Weltstadt London davon gekennzeichnet, dass sich die Bevölkerung aus diversen ethnischen Minderheiten zusammen setzt und dass die Stadt ihre Funktion als Handelsmarkt und Finanzzentrum auch im 21. Jahrhundert behaupten konnte. Demgegenüber ist die Millionenstadt Kairo eine altehrwürdige Metropole, die für 50% ihrer Bewohner lediglich Notunterkünfte zur Verfügung stellt, während in Mumbai/Bombay derzeit schlicht alles boomt: Slums, Bollywood, CallCenter und die Bauindustrie. Auf der Rückseite solcher Entwicklung findet der wirtschaftliche Niedergang und das Schwinden regionaler Bedeutsamkeit gleichermaßen differenziert statt: Eine Stadt wie Manchester erlebte mit dem Niedergang der Textilindustrie klassische De-Urbanisierung, während Detroit im Verlauf mehrerer Krisen der Automobilindustrie in den letzten Jahrzehnten 50 % der Bevölkerung verlor und zugleich im Prozess einer Suburbanisation ein Anwachsen der Region Detroit erlebte. Ähnlich geht es der Schweizer Stadt Basel. Auch sie verliert an Einwohnern, aber das Dreiländereck Frankreich, Deutschland, Schweiz in dieser Region wächst seit Jahren kontinuierlich.
Diese Vielfalt an räumlichen Formen und räumlicher Dynamik zeigt, dass sich auch die Prozesse der räumlichen Gestaltung verändert haben. Sie sind in Zeiten der Wissens- und Informationsgesellschaften nicht mehr vorrangig produktionsorientiert, sondern stärker auf Innovationen und Erfindungen künftiger Waren ausgerichtet. Soziale Egalisierung ist damit zumeist nicht verbunden. Die Potenziale von Kreativität und Innovation sind so ungleich verteilt wie die klassischen Produktionsmittel auch.

Hybride Regionalitäten

Die Möglichkeiten, Kreativität produktiv zu realisieren, sind voraussetzungsvoll. Sie können ohne Bildung, soziale Netzwerke und die Unterstützung durch Stadtteil-, Kultur- oder auch Wirtschaftspolitik nur schwer umgesetzt werden. Deshalb gehen auch in der urbanen Gegenwart Prekarisierung und Aufstieg, Verelendung und neue Ausdrucksmöglichkeiten Hand in Hand. Die Parallelität verschiedener Welten wird zum Kennzeichen von Urbanität. In den Mega-Städten zeigt sich dies beispielsweise darin, dass zu Hauf Niedriglohn-Arbeiter in unternehmensorientierten Dienstleistungsgewerben (z. B. Call-Center, IP-Branche) tätig sind. Zugleich entwickelt sich dort eine Vielfalt kultureller Einrichtungen – Clubs, Kneipen, Aufführungsorte, Museen, die neue kreative Produktivität hervor bringen. In den Großstädten segregieren sich die Stadtviertel nicht nur ethnisch, sondern auch sozial und kulturell, und touristische Innenstädte, trendige Szeneviertel, Hochhaussiedlungen und dörflich anmutende, migrantisch bewohnte Siedlungen existieren nebeneinander, ohne dass soziale Kontakte und wirtschaftliche Verflechtungen existierten. In den Städten mittlerer Größe kämpfen die Geschäfte in den innerstädtischen Räumen ums Überleben und die Zentren verbleiben abends meistens menschenleer, während in den Randlagen sich die bürgerliche Kultur in der Form von Eigenheimen, Sportstätten, Reitvereinen und stadtnahen Landgasthäusern etabliert hat.
Urbanitäten heute unterliegen schnellen konjunkturellen Schwankungen. Wohnraum zu Spitzen- oder Spottpreisen, Fluktuationen bei Gewerbe und Restauration, Investitionsstau oder -boom in die Infrastruktur bestimmen, wer wie lange im städtischen Raum leben und überleben kann.

Wem gehört die Stadt?

Henri Lefebvre, ein bedeutender Städteforscher des 20. Jahrhunderts, begreift das Städtische weniger als einen Funktionszusammenhang als vielmehr als ein Opus und ein Versprechen, das über sich selbst hinaus weist. Die Stadt ist in seinem Verständnis nicht nur ein Raum, in dem gewohnt, gearbeitet, verwaltet, sich bewegt wird und welcher der Planung und politischen Steuerung bedarf, sondern sie ist ein Werk, das sich ständig überschreitet und transzendiert. Lefebvres Analyse moderner Urbanität ist vernichtend. Er hält das städtische Leben heute für eintönig und einförmig und kritisiert Oberflächlichkeit, Verflachung und Banalisierung, die sich in allen Ecken des Städtischen versteckt: der Druck zur Aktualität und zu sogenannt großen Ereignissen, das pausenlose Gerede über Kunst, Mode und Politik, die Ablenkung durch Bilder, Internet und Fernsehen machen das städtische Leben selbst zum Schauspiel oder führen ihm seine Ausnahme- und Begleiterscheinungen vor: Gewalt und Katastrophe, Glamour und Stars. In der Überschreitung und Überwindung dieses Zustands von Urbanität liegen, so Lefebvre, die Herausforderungen der Zukunft des Städtischen. Dazu bedürfe es eines profunden Wandels des urbanen Alltags sowie eines „Rechts auf ein urbanes Leben“.
Ein solches Recht auf das Städtische, auf ein urbanes Leben, manifestiert sich in dem Recht, in Kommunikations- und Tauschsystemen vertreten zu sein. Da heute die grundlegende Bedrohung nicht mehr in der Ausbeutung von Menschen liegt, sondern in dem Ausschluss aus den Kreisläufen der globalisierten Welt, wächst die Gruppe, die „Prekariat“ genannt wird. Diese Menschen haben keine stabilen Arbeits- und Lebensverhältnisse und die Gewalt der Vorstädte, der Aufruhr, der sich in den peripheren Wohnvierteln in den letzten Jahren immer wieder ereignet hat, klagt dieses „Recht auf ein urbanes Leben“ ein. Die Aufbegehrenden fordern dazu auf, darüber nach zu denken, wie gerechte, demokratische urbane Lebensräume für Milliarden von Menschen aussehen können. Dazu gehört auch der Erhalt der Ressourcen, etwas, was in den urbanen Räumen der Gegenwart kaum gelingt.
Lefebvre schlägt angesichts dieses desolaten Zustands von urbanen Räumen vor, die Produktion des städtischen Raumes voranzutreiben. Die Stadt, so sagt er, solle ein Werk werden. Er empfiehlt eine Revitalisierung des alltäglichen Lebens, die durch die intensive und bewusste Gestaltung und Erfahrung von Liebe und Erkenntnis, Kampf und Spiel, Aktion und Entspannung zu betreiben sei. Das sind große Worte.

Netzwerke und neue Einteilungen

Der Stadt- und Architektursoziologe Christian Schmid hat diese theoretischen Überlegungen einer Anwendung unterzogen. Er hat an der ETH Zürich zusammen mit 140 Architektur-Studierenden die urbane Schweiz der Gegenwart unter den theoretischen Prämissen von Henri Lefebvre untersucht. Dabei wurden an 70 Stationen – reichend von Stadtzentren über Großagglomerationen bis zu einsamen ländlichen Gebieten – sogenannte „Bohrungen“ durchgeführt. Bei der Sammlung von Informationen zu Wirtschaft, Bevölkerung, Topografie, Verkehr, Infrastruktur und Klima an diesen „Bohrungsstationen“ wurden aber nicht einfach Statistik und herkömmliche Raster der Beschreibung verwendet, sondern es wurden Begriffe aus der Raumtheorie von Henri Lefebvre zur Grundlage der Erhebung gemacht. Die Begriffe „Netzwerke“, „Grenzen“ und „Differenzen“ leiteten den Zugang und das Verständnis der Untersuchung: Mit der Bezugnahme auf diese Kategorien bildete sich tatsächlich etwas anderes ab als mit Hilfe gängiger operationaler Begriffe und Wahrnehmungsraster.
Die Studierenden beschrieben zum einen Netzwerke materieller Infrastruktur von Straßen, Flughäfen und Glasfaserkabeln, die sich regional unterschiedlich als Zonen dichter Interaktion, als grüne Löcher sowie als Zonen des Niedergangs zeigten. Zum zweiten machten sie Regionalitäten sichtbar, die über administrative und politisch-territoriale Grenzen hinweg existieren. Indem Urbanität als Grenzen überschreitender Prozess verstanden wurde, rückten urbane Spezifika in den Blick, die beispielsweise in der Region Basel/Freiburg/Mulhouse mit ländlicher Verdichtung verbunden und in der Region Lugano/Locarno/Bellinzona metropolitan orientiert, auf Milano und Turino ausgerichtet sind. Drittens schließlich machte die konsequente Anwendung der Kategorie „Differenz“ ein Ensemble urbaner Unterschiede in einer vollständig urbanisierten Schweiz deutlich. Heraus gearbeitet wurden fünf urbane Zonen: 1. Metropolitanregionen (Zürich, Basel, Genf), 2. Städtenetze (z. B. Bern und Umland), 3. Stille Zonen (z. B. Jura) als Antithese zu den urbanen Konzentrationen, 4. Alpine Resorts (St. Moritz, Davos) als temporäre Städte der Freizeit und der Intensität, und 5. Alpine Brachen als Zonen des Niedergangs.
Diese Anwendung des Lefebvreschen Theoriegebäudes zeigt, dass die klassische, klar abgegrenzte Stadt aus den heutigen Landschaften verschwunden ist und es wäre interessant, auch das Emschertal in Auseinandersetzung mit dessen Überlegungen zu betrachten. Wie beispielsweise zeigt sich die von Henri Lefebvre vertretene Ansicht, dass die dynamische weltumspannende Urbanisierung mit der Entstehung einer urbanen Gesellschaft verbunden sei, im Emschertal? In der schweizerischen Untersuchung wurde deutlich, dass Menschen, die in Regionen wohnen, die als „ländlich“ gelten, urbane Lebensweisen und Lebensstile praktizieren. Auch in abgelegenen Dörfern werden Handys und Internet benutzt und die dortige Bevölkerung ist per Day-trading, ebay und itunes in globalisierte ökonomische Kreisläufe eingebunden und arbeitet in wirtschaftlichen Zusammenhängen, die auf Kurzfristigkeit und Elastizität ausgerichtet sind. Die neuen urbanen Differenzen zeigen sich dort jenseits von Einteilung in Stadt/Land, Dorf/Viertel und bäuerlicher, zyklischer Lebensweise/metropolitaner linearer Lebensweise. Eine ähnliche Beschreibung „neuer urbaner Differenzen“ des Emscher-Raums vorzunehmen, steht noch aus und stellte ein interessantes Unterfangen dar.

Aneignungen urbaner Regionalität

Auch wäre darüber nachzudenken, wie genau sich das „Recht auf urbanes Lebens“ entfalten und realisieren ließe; Levebvre selbst macht dazu wenig Ausführungen. Es ist anzunehmen, dass Kultur und kulturelle Aktivitäten dabei ein wichtige Rolle spielen, da in der Vergangenheit die Städte immer zentrale Orte für politische und kulturelle Erneuerungen waren und auch heute, angesichts globaler Anforderungen Stadtbewohner und Stadtregierungen Tauschplätze für eine zwischenstädtische Kultur etablieren und zugleich ihre jeweiligen spezifischen Eigenheiten und Herausforderungen thematisieren. Allerdings sind viele kulturelle Aktivitäten heute kommerziell durchsetzt und von politischem Pragmatismus bestimmt. Sie sollen sich als nützlich und funktional erweisen. Dabei sind einerseits die global distribuierten und vermarkteten Formen von Kultur allgegenwärtig. Andererseits erfahren regionale Besonderheiten und regionales Brauchtum derzeit eine Aufwertung. Der Begriff „Heimat“ ist schon seit längerem wieder en vogue. Regionale Jugend- und Seniorenprojekte zum Thema haben Hochkonjunktur, real und virtuell bringt sich die offizielle Kultur in Form von Heimat-Musik und als www.heim@tmuseum.de in Erscheinung, und auch in Politik und Wissenschaft wird der Heimat-Begriff diskutiert. Als Anlass für diese Renaissance gelten die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der Urbanisierung einher gehen: Durch Gebietsreformen, Auflösen der Infrastruktur im ländlichen Raum und durch erzwungene Mobilität verursachte schwindende soziale und räumliche Verortung, durch Großprojekte wie Kernkraftwerke und Flughäfen veranlasste Sehnsüchte und Suchbewegung nach neuen Orten und Sinnbezügen in der Welt wie auch durch (Zwangs-) Migrationen und die damit verbundenen, vielfältigen Formen neuer Beheimatung wird „Heimat“ zu einer neuen Chiffre.
Heimat heute haftet aber nichts Anheimelnd-Gemütliches mehr an. Sie ist vielmehr breit, bunt und schillernd. Die Rede ist von einer Herkunfts- oder Wahlheimat, von geistiger, sozialer oder räumlicher Heimat, vom eigenen Körper als kleinstmöglicher Heimat oder entsprechender Stilisierung der eigenen Wohnung, von lokalen, regionalen, nationalen, globalen Zuordnungen oder auch der „ewigen Heimat“ jenseits von Raum und Zeit. Immer häufiger wird dabei der Heimatbegriff im Plural verwendet, von „temporären Heimaten“ gesprochen oder von den vielen gleichzeitigen Heimaten einer Region als Ausdruck der Pluralität von Identität. Manchmal ist Heimat auch eine reale Erfahrung, wie das Graffiti: „Heimat ist, wo’s hart ist“ andeutet oder wie es der Slogan von Direktvermarktern der Region Koblenz verspricht: „Heimat schmeckt!“.
Jenseits von Kommerz und politischer Nützlichkeit gibt es in urbanen Gegenwarten aber auch immer wieder kulturelle Aktivitäten, in denen sich lokale Gemeinschaften aktiv für die Gestaltung ihrer Lebenswelten einsetzen und in denen Kultur und Kulturalität als kreativer und ästhetischer Ausdruck sozialer Verhältnisse verstanden und unterstützt wird. Prominentes Beispiel sind die Community Gardens in New York, Chicago und Berlin oder auch community based-art-Projekte, in denen öffentliche Räume von den Bewohnern und Bewohnerinnen gestaltet, angeeignet und politisch thematisiert werden. In solchen Projekten zeigen sich die verschiedenen Interessen unterschiedlicher Anwohnergruppen in der Form von Blumen, Salat und Radieschen, Grillplatz, Schaukel und Sandkasten oder auch als Natur belassene Wiese in der Stadt. Auch geht es immer darum, die Realität einer urbanen Situation kulturell heraus zu arbeiten und sichtbar zu machen. Die Differenz zwischen den beteiligten Personengruppen ist hier konstitutiv. Sie werden aber als Anwohnerinnen und Anwohner angesprochen, nicht in ihrer Status bezogenen Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit als Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, Migrantenjugendliche oder junge Mütter. In der kulturellen Gemeinsamkeit als Anwohnerin und Anwohner kann sich die soziale Pluralität abbilden, ohne dass zugleich die konflikthaften Aspekte dieses sozialräumlichen Verhältnisses ausgeblendet werden: Mütter brauchen andere urbane Räume als Obdachlose, und community based-art-Projekte geben beiden Gruppen die Möglichkeit, ihre Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Kunst und Kultur produzieren hier einen alternativen Raum, indem sie Modelle entwerfen, anstatt Lösungen anzubieten.
Im Unterschied zum offiziell und kommerziell verbreiteten Heimat-Diskurs vollzieht sich in solchen Projekten eine Abkehr von einem Verständnis von Gemeinschaft als identitätspolitische Festschreibung und eine Öffnung zu experimentellen Produktionsgemeinschaften. Dabei können Wünsche, Erfahrungen und Erzählungen in kollektive Zusammenhänge eingebunden werden, zum Ausdruck gebracht und verstetigt werden, so dass sie als eine neue und andere Realität erfahrbar sind. So könnte ein „Recht auf ein urbanes Leben“ seinen Anfang nehmen.

Autorin: Dr. Katharina Liebsch, Professorin für Soziologie an der Helmut Schmidt Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, arbeitet zu den Themenbereichen Gesundheit, Geschlecht, Generationenverhältnisse.

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Highline Park, New York City.

Foto: © K.-H. Blomann

Stadtlandschaft Ruhrgebiet

Auch im Ruhrgebiet ist während seiner industriellen Entwicklung eine Stadtlandschaft entstanden, die sich den Kategorien Wachstum/Schrumpfung weitgehend versperrt. Das Ruhrgebiet ist ein Hybrid, der Elemente von Metropole/Provinz wie auch von Zentrum/Peripherie gleichzeitig enthält. Es befinden sich Elemente der alten europäischen Kernstadt in unmittelbarer Nähe zu hypermodernen Shopping Malls amerikanischer Machart, die von verwilderten oder restaurierten Industriebrachen umgeben sind. In direkter Nachbarschaft zu städtischen Verdichtungsbereichen gibt es Bauernhöfe und Reste von dörflichen Strukturen, die wiederum mit neuen Dienstleistungs- und modernisierten Industriestrukturen verwoben sind. Auch die über die ganze Agglomeration verbreiteten Arbeitersiedlungen lassen sich weder von ihrer städtebaulichen Struktur noch von ihrer sozialen Besetzung mit Begriffen wie „suburban“ oder „zwischenstädtisch“ kategorisieren. Diese räumliche Struktur wird auch im Emschertal bis in ihre verdichteten Bereiche hinein von einer Freiraum-, Grün- und Alleenlandschaft durchzogen. Hier gibt es gartenstädtische Elemente neben Verwilderung von Freiräumen sowie absichtlich oder natürlich „renaturierte“ Brachflächen, künstliche Berglandschaft aus begrünten Halden und Deponien.


Metropole oder was? Foto: © K.-H. Blomann

Schichten einer Region

Das Forschungsprojekt „Schichten einer Region - Kommentiertes Kartenwerk zur baulichen und räumlichen Struktur des Ruhrgebiet“ läuft bereits seit einigen Jahren an der Fakultät für Raumplanung der Technischen Universität Dortmund unter der Leitung von Prof. Dr. Christa Reicher. Die Ergebnisse des Projekts wurden im Juni 2011 auf der Etage U1 des Dortmunder U einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Ausstellung setzte sich anhand von kartographischen Visualisierungen mit den Besonderheiten des Ruhrgebiets in der Geschichte wie in der Gegenwart auseinander und legte ein besonderes Augenmerk auf zukünftige Chancen und Perspektiven der Region. Als zentrale Punkte wurden deutlich:
1. Das Ruhrgebiet als eines der größten urbanen Ballungsräume Europas ist keine klassische Metropole.
2. Das Ruhrgebiet besteht aus einer Vielzahl unterschiedlich großer und unterschiedlich dicht bebauter Teilräume, deren jeweiligen Kerne und Verbindungsbereiche einen netzartig strukturierten Metropolraum mit ganz eigenen urbanen Eigenschaften bilden.
3. Es gilt, die vorhandene polyzentrische Siedlungsstruktur des Ruhrgebiets zu nutzen und weiterzuentwickeln.
4. Das ethnische und soziale Mosaik, sprich die Internationalität des Ruhrgebiets, bildet die Ausgangsbasis der nachindustriellen Entwicklung.
5. Die Landschaft des Ruhrgebiets wird als eine Landschaftsmaschine vorgestellt, welche die alte Industriemaschine z. T. zerlegt oder umfunktioniert, um neue Aufgaben anzugehen.
6. Die Kooperation der einzelnen Städte miteinander als eine neue stärkende Kraft des Zusammenhalts muss sich auch im Verwaltungsgefüge niederschlagen.
7. Die zukünftige Planung sollte keinem festen Plan folgen, sondern sektoral überschneidende, thematisch fokussierte und konsensbasierte Schlüsselthemen als Ausgangspunkt für die weitere Raum-Planung der Region machen.
www.schichten-einer-region.de


Luftaufnahme vom Baugelände des Phoenix Sees in Dortmund Hörde. Foto: Klaus Baumers © Emschergenossenschaft

Park Fiction in Hamburg, St. Pauli. Foto: © K.-H. Blomann

Park Fiction

Ein Beispiel für eine hybride Kulturalität des Urbanen ist das Hamburger Projekt „parkfiction“. Es wurde ab 1995 über viele Jahre im Antonipark im Stadtteil St. Pauli in Zusammenarbeit zwischen den KünstlerInnen Christoph Schäfer, Margit Czenki und Cathy Skene, Anwohner und Anwohnerinnen, einem Stadtteilbüro und einer Landschaftsarchitektin realisiert. Anfangs wurden viele Anwohnerinnen und Anwohner direkt in ihren Wohnungen aufgesucht und über das Projekt und die Möglichkeiten der Teilnahme informiert. Es gab Stadtteil-Stammtische und Gruppenprojekte mit Kindern. Mehr als 1000 Personen beteiligten sich bislang aktiv an den diversen Formen der „kollektiven Wunschproduktion“, die unter dem Motto stand: „Die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen“. Realisiert wurden im Rahmen dieser Aktion eine wellenförmig angelegte Rasenfläche, der sogenannte „fliegende Teppich“, künstliche Palmen, ein Teegarten mit Hängematte und ein „Hundeklo“. Die Idee eines bunt beleuchteten „Seeräuberinnenbrunnen“ wartet bis heute auf seine Umsetzung. Parallel zu der Arbeit mit den Wünschen der Anwohner begab sich eine Bürgerinitiative „in bed with bureaucracy“, um in zähen und langwierigen Verhandlungen mit den städtischen Behörden die Erlaubnis einzuholen, das begehrte Areal, das eigentlich mit teuren Apartments zugebaut werden sollte, den Wunschproduktionen der lokalen Bevölkerung zu übergeben. www.parkfiction.org

Urban Gardening

Ursprünglich wurde die heimliche Aussaat von Pflanzen - vorrangig in Großstädten oder auf öffentlichen Grünflächen - als subtiles Mittel politischen Protests und zivilen Ungehorsams im öffentlichen Raum als Guerillagärtnerei bzw. Guerilla Gardening bezeichnet. Mittlerweile hat sich Guerilla Gardening zum urbanen Gärtnern oder zu urbaner Landwirtschaft weiterentwickelt und verbindet mit dem Protest den Nutzen einer Ernte beziehungsweise einer Verschönerung trister Innenstädte durch Begrünung brachliegender Flächen.

Hayes Valley Farm: Urbanes Gärtnern in San Francisco. Foto: Edible Office (CC)

Wissenswertes


Bryant Park, Manhattan. Foto: Ed Yourdon (CC)

Urbanisierungszyklus

Urbanisierung - Suburbanisierung - Deurbanisierung – Reurbanisierung sind zyklische Phänomene, wobei die einzelnen Phasen parallel ablaufen können und nicht zwingend aufeinander folgen.

Urbanisierung

Unter Urbanisierung (lat. urbs: Stadt) versteht man die Ausbreitung städtischer Lebensformen. Diese kann sich einerseits im Wachstum von Städten ausdrücken (physische Urbanisierung), andererseits durch verändertes Verhalten der Bewohner von ländlichen Gebieten (funktionale Urbanisierung). Der Prozess der physischen Urbanisierung ist seit Jahrhunderten zu beobachten (in Europa vor allem im 19. Jahrhundert) und hat in den letzten Jahrzehnten in den Schwellen- und Entwicklungsländern bisher ungekannte Ausmaße angenommen. In den Industrieländern wurde die physische Urbanisierung weitgehend von der funktionalen Urbanisierung abgelöst, das heißt von der Ausbreitung städtischer Lebensformen in benachbarte, bisher ländliche Räume (Suburbanisierung).
Historisch gesehen ist eine Zunahme des Anteils der Stadtbevölkerung festzustellen. Im Jahr 2008 lebten weltweit erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen rechnet mit 5 Milliarden Städtern im Jahr 2030. In Zukunft wird sich die Urbanisierung am stärksten in Afrika und Asien vollziehen.

Suburbanisierung

Suburbanisierung oder Stadtflucht ist die Abwanderung städtischer Bevölkerung oder Funktionen aus der Kernstadt in das städtische Umland und auch darüber hinaus. Damit verbunden ist eine Diffusion der kompakten Stadt in ihr umliegendes Land, d. h. Bevölkerung, Arbeitsplätze, Funktionen und damit auch zentralörtliche Bedeutung verschieben sich aus dem Stadtkern in den suburbanen Bereich, z. B. in die Vorstadt. Mit der Entwicklung von Suburbanisierung und ihren demographischen, ökonomischen und siedlungsstrukturellen Auswirkungen befassen sich die Regionalplanung und die Stadtgeographie. Zu unterscheiden ist Stadtflucht von Entstädterung.

Deurbanisierung

Deurbanisierung (Entstädterung) ist die Bevölkerungs- und Beschäftigungsabnahme im gesamten Agglomerationsraum einer Stadt. Dieser Prozess der Entstädterung tritt vor allem in altindustrialisierten Räumen in Westeuropa und den USA auf.

Reurbanisierung

Reurbanisierung ist die Bevölkerungs- und Beschäftigungszunahme in der Kernstadt. Es kommt dabei zu einer Aufwertung der Kernstadt. Auslöser können zum Beispiel sein:
Investitionen in Stadterneuerung, Höherbewertung städtischer Lebensstile, Strukturwandel (Tertiarisierung), vorausgehende Suburbanisierung, die Wohnraum in der Kernstadt wieder bezahlbar macht, höhere Verkehrskosten (Energiepreise), welche das Leben in der Stadt in Relation günstig machen.

Shrinking Cities – Forschungs- und Ausstellungsprojekt der Kulturstiftung des Bundes

Sechs Jahre lang (2002-2008) befasste sich im Rahmen des Initiativprojekts Schrumpfende Städte eine Vielzahl internationaler Wissenschaftler, Künstler, Architekten und Planer mit der Thematik urbaner Schrumpfungsprozesse. Die Resultate des Projekts wurden in zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen, der Website, diversen Publikationen und einer Ausstellung präsentiert, die im Frühjahr 2008 nach diversen internationalen Stationen auch in Dortmund und Duisburg zu sehen war.
www.shrinkingcities.com


Wem gehört die Stadt? Foto: Wolfgang Sterneck (CC)

Literatur:

Henri Levebvre

Der französische Philosoph und Raumtheoretiker Henri Levebvre lebte von 1901 bis 1991 und untersuchte in vielen seiner Werke die Beziehung des Raumes zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Heute werden seine Überlegungen wieder stark diskutiert und angewendet. Siehe z. B. Lefebvre, Henri (1969): Das Alltagsleben in der modernen Welt. Frankfurt/M.; Lefebvre, Henri (1972): Die Revolution der Städte, München; Lefebvre, Henri (1991): The production of space. Oxford 1991; Diener, Roger/Herzog, Jacques/Meili, Marcel/de Meuron, Pierre/Schmid, Christian (2006): Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt. ETH Studio Basel. Institut Stadt der Gegenwart. 3 Bände und eine Thesenkarte. Basel

Richard Burdett

Eine künstlerische Visualisierung von Verstädterung hat Richard Burdett, der Chefkurator der Biennale von Venedig, 2006 mit Hilfe von NASA Nachtaufnahmen vorgenommen. Seine Visualisierungen zeigen in Europa ein dichtes Band städtischen Lichts von Südengland bis Norditalien, in Japan eine beinahe vollständige Urbanisierung und in den USA ein geometrisches Gitter, das sich über den nördlichen Teil des Kontinents zieht. Vgl. Burdett, Richard/Sudjic, Deyan, (eds.)(2007): The endless city. The Urban Age project by the London School of Economics and Deutsche Bank’s Alfred Herrhausen Society. London. Burdett, Richard/Ichioka, Sarah (2006): Cities. People, society, architecture. 10th International Architecture Exhibition - Venice Biennale. Rom.


Europa bei Nacht. Foto: Chris Christner (CC)